Hintergrundinformationen zum Thema „Malen“ und „Förderung der kindlichen Entwicklung durch Kreativität“ (17.2.2011)
Mit freundlicher Erlaubnis von Frau Dr. Miriam Bachmann Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie Analytische Paar- und Familientherapeutin in Hamburg
1. Wie wichtig ist malen für die kindliche Entwicklung?
Kindliche Entwicklung bedeutet eine kontinuierliche Veränderung und Weiterentwicklung in intellektueller, motorischer, sozialer, emotionaler und kreativer Hinsicht. Malen unterstützt die intellektuelle Entwicklung, da es unter anderem die räumliche Intelligenz fördert. Die Wahrnehmung der visuellen Welt, die Transformation, die Modifikation und die Reproduktion schärfen den Blick, das „innere Bild“ und den Abgleich mit dem entstandenen Bild.
In einer Gemeinschaft zu malen bedeutet, sich gegenseitig anzuregen, gemeinsame Ziele zu verfolgen und gleichzeitig Toleranz für andere Lösungen zu entwickeln. Emotional unterstützt Malen das Selbstbewusstsein. Etwas Schaffen, das Bestand hat, das nicht verloren geht, beflügelt Kinder, die den Erwachsenen ja nacheifern wollen.
„Ich kann etwas bewirken in dieser Welt.“ Das ist die Botschaft für die malenden Kinder. Und die kreative Entwicklung wird natürlich ganz wesentlich durch künstlerische Betätigung gefördert. Kreativ sein, bedeutet ja auch kreativ denken, nonkonforme Lösungen wagen, mutig und spielerisch auch mit schwierigen Aufgaben umzugehen. Das sind Kompetenzen die später immer wieder abverlangt werden.
2. Welche positiven Aspekte werden durch das Malen gefördert?
Kreatives Handeln und Malen schaffen Mut und Selbstbewusstsein, die Eigeninitiative wird gefördert und die Bereitschaft der Fantasie freien Lauf zu lassen. Malen unterstützt sowohl die Fein- und Grobmotorik, was später für den Erwerb der Lese- und Rechtschreibfertigkeiten von Bedeutung ist. Die Auge-Hand-Koordination wird unterstützt.
Bei dem Versuch, Gesehenes durch kreatives Handeln wieder zugeben, erfolgt ein Abgleich von Größenverhältnissen. Dreidimensionales wird auf den zweidimensionalen Raum transportiert, was das abstrakt-logische Denken und die visuelle Wahrnehmungsfähigkeit fördert. Kinder die malen beobachten ihre Umwelt aufmerksamer, so wird die Konzentrations-Fähigkeit und damit auch die gesamte intellektuelle Entwicklung unterstützt.
3. Hat das Malen Einfluss auf die emotionale Entwicklung von Kindern?
Durch den Prozess des Schaffens und Handelns erleben Kinder sich als selbst-bestimmtes, agierendes Wesen. Das Ergebnis erfüllt sie mit Stolz, sie können ihr „Produkt“ in den Händen halten und mit anderen teilen. Deshalb ist es wichtig, Bilder und künstlerische Werke nicht zu bewerten im Sinne von beurteilen (ein Urteil darüber fällen), sondern sie wertzuschätzen.
4. Wie hängen die kreativitäts- und die kognitive Entwicklung eines Kindes zusammen?
Begabungspotentiale können nur dann genutzt werden, wenn sie sich auch entfalten können. In Bezug auf die kognitive Entwicklung und die gezeigte Leistungsfähigkeit gibt es verschiedene Begabungsmodelle. Nebenvielen anderen Einflüssen wie Begabung, Umwelt und Motivation ist die Kreativität ein grundlegendes Merkmal, das zur Steigerung der gezeigten Leistungsfähigkeit (Performanz) führt.
Kreativität ist die Fähigkeit, Ideen, Informationen und Dinge auf originelle, das heißt, ungewöhnliche und neuartige Weise produktiv miteinander zu verbinden.
Kreativität im Denken bedeutet zum Beispiel divergentes Denken, das heißt, ein Denken in verschiedene Richtungen, das nicht auf die nächstliegende Lösung eines Problems zielt, sondern nach ungewöhnlichen Lösungswegen Ausschau hält. Kreativ denken bedeutet auch flexibel zu denken.
Diese Kreativität im Denken wird durch die kindliche Beschäftigung beim Malen und kreativen Handeln gefördert, so dass letztlich jeder kreative Ausdruck im kindlichen Handeln eine positive Beeinflussung der kognitiven Entwicklung bedeutet.
5. Welchen Aufschluss geben Bilder bzw. die Wahl von Formen, Farben oder Motiven über die kognitiven Fähigkeiten eines Kindes?
Das Erkennen von Farben, das Benennen und Nachzeichnen von Formen und einfachen Motiven sind ein wesentlicher Baustein der ärztlichen Vorsorgeuntersuchungen der Kinder vom 3. bis zum 9. Lebensjahr also der U7 bis U10. Erste rechnerische Fertigkeiten lassen sich z. B. über das Einschätzen und Malen von Mengen und Größenverhältnissen erkennen. In standardisierten Intelligenztests, die im Rahmen von Entwicklungstests ab dem 7. Lebensmonat und im Rahmen von differenzierten Intelligenztests ab dem Alter von 2 Jahren und 6 Monaten eingesetzt werden können, sind diese Kenntnisse wesentliche Merkmale die Aufschluss über die intellektuelle Leistungsfähigkeit geben.
Der so genannte „Mannzeichentest“ erlaubt zum Beispiel die sehr grobe Bestimmung des „Mannzeichenalters“ oder „Mannzeichenquotienten“, also der Einschätzung des Entwicklungsstandes eines Kindes im Vergleich zu Gleichaltrigen. Er erlaubt jedoch auch eine gewisse Beurteilung der seelischen Befindlichkeit eines Kindes, jedoch nur in Kenntnis und in Zusammenhang weiterführender Untersuchungen.
6. Woran erkennen Eltern/Lehrer, dass die Kreativität eines Kindes über- oder unterdurchschnittlich entwickelt ist?
(Alternative Fragestellung: gibt es eine Sonderbegabung im Bereich Kreativität, sowie es zum Beispiel eine sportliche oder musikalische Hochbegabung gibt? Wie kann man diese erkennen?)
Die Frage der Begabung im Bereich Kreativität ist sehr komplex. Es gibt tatsächlich künstlerisch kreative Kinder, die bereits schon früh, selten auch schon ab dem 3. oder 4. Lebensjahr, dadurch auffallen, dass sie über eine besondere künstlerische Ausdrucksfähigkeit verfügen, dass sie sich in den Proportionen relativ sicher sind oder z. B. früh dreidimensional zeichnen. Meist sind diese Kinder dann auch fein- und visuomotorisch sehr geschickt.
In dem Münchner Hochbegabten Test (MHBT) gibt es zum Beispiel eine Checkliste zur Einschätzung der Kreativität für die Primarstufe. Wissbegierde, Neugier, schöpferisches und erfinderisches Denken oder auch geistige Wendigkeit werden von Eltern und Lehrern beurteilt. Mark Chagall z. B. war ein schlechter Schüler. Er hatte jedoch auch seine starken Fächer. „Am liebsten hatte ich Geometrie. Darin war ich nicht zu schlagen. Linien, Winkel, Dreiecke, Quadrate entrückten mich in verführerische Fernen. Und während der Zeichenstunden fehlte mir nur noch ein Thron.“ Bereits mit 4 Jahren eröffnete er seiner Mutter, dass er Künstler werden wolle und zu keinem Kompromiss bereit sei.
Besondere Begabungen in dem Bereich der Kreativität und speziell der Malerei können sich jedoch auch in jedem späteren Lebensalter zeigen, hierin unterscheidet sich die Art der Expertise-Entwicklung im Vergleich zum Beispiel zur Musik. Biografien von Künstlern, die erst in höherem Lebensalter begonnen haben, künstlerisch tätig zu sein, sollten jedem Mut machen, sich in jedem Lebensabschnitt seinen kreativen Neigungen hinzugeben.
7. Wie, wann und warum malen Kinder am liebsten?
Malen gelingt an fast jedem Ort. Mit den Fingern im Sand, mit Stöcken in der Erde, mit einem Kugelschreiber im Restaurant beim Warten. Besondere Freude bereitet es Kindern nach meiner Erfahrung, wenn sie großflächig zum Beispiel auf alten Laken oder auf großen Leinwänden oder Tapeten malen können. So wie das Gespräch, das Interaktionsmedium der Erwachsenen ist, so ist Spielen und Malen das Ausdrucksmedium von Kindern. Deshalb ist es für Erwachsene wichtig, sich immer wieder auch auf die Ebene der Kinder zu begeben. Auch für Erwachsene ist es ein Gewinn, sich intuitiv und spielerisch mit Kindern zu beschäftigen.
8. Wie können Eltern/Lehrer Kindern den Spaß am Malen vermitteln?
Malen sollte ein natürlicher und dauerhafter Bestandteil im Leben der Kinder sein, so dass auch weniger geschickte Kinder keine innere Hürde aufbauen sollten und sich jederzeit mit unterschiedlichsten Materialien an künstlerische Aufgaben wagen sollten. Eigenes kreatives Handeln der Erwachsenen ermutigt Kinder.
9. Wie können Eltern/Lehrer die kindliche Kreativität fördern?
Durch Wertschätzung des Geschaffenen und ein reichhaltiges Angebot an Möglichkeiten kann Kreativität gefördert werden. Erwachsene sollten Anregungen geben, ohne zu viel Vorgaben zu machen. Künstlerisches Gestalten mit Finger-Farben, Gaze, Pinsel, Bürsten, Schwämmen, Ei-Tempera-Farben, Buntstiften und vielen anderen Materialien lassen schier unbegrenzte Möglichkeiten zu, die auch keiner wirtschaftlichen Vorgabe genügen müssen.
Auch das gemeinsame Gestalten innerhalb der Familie oder einer Gruppe ist wichtig und freudvoll und oft auch für die Erwachsenen eine neue Erfahrung. Wunschzettel für Geburtstage, Rezepte, Einladungen, Tagebücher und vieles mehr können zum Beispiel auch bildlich gestaltet werden. So wird den Kindern vermittelt, dass Bilder auch Botschaften beinhalten und eine Möglichkeit darstellen, Emotionen und Ideen auszudrücken.
10. Sollten Eltern/Lehrer Kinder beim Malen anleiten und/oder die Bilder anschließend bewerten (konstruktive Kritik)?
Kindern sollte primär viel Freiraum gewährt werden um selbständig Farben, Formen und Materialien auswählen zu können. Sowohl der Prozess des Schaffens als auch das Ergebnis sollten gewertschätzt, jedoch nicht bewertet im Sinne von „gut“ oder „schlecht“ werden. Schon wenige kritische Äußerungen können Kinder mit einem schwachen Selbstwertgefühl bremsen, so dass sie sich im Verlauf keine neuen Aufgaben mehr zutrauen. Natürlich können ältere Kinder und Jugendliche hinsichtlich ihrer Techniken und theoretischer Kenntnisse unterrichtet und unterstützt werden.
11. Welche Materialien/Kreativprodukte bevorzugen Kinder in welchem Alter, bzw. durch den Einsatz welcher Materialien/Kreativprodukte kann die Kreativität am besten gefördert werden?
Es gibt keinerlei Einschränkungen für Materialien oder Produkte. Sowohl Alltagsgegenstände als auch Mal und Schreibgeräte, Naturmaterialien, alle Farben und Produkte unterstützen die Entwicklung der Kreativität. Stets, und vor allem bei Kindern ist jedoch auf gesundheitlich bedenkenlose Produkte zu achten und eine altersentsprechende Aufsicht durch Erwachsene zu gewährleisten.
12. Wie hat sich das Mal-Verhalten von Kindern in den letzten Jahren verändert?
Vor allem vor dem Hintergrund der Entwicklung der Medien hat sich das Mal-Verhalten in den letzten Jahren deutlich verändert. Immer mehr Kinder sitzen in immer früherem Lebensalter viele Stunden vor dem Fernseher oder dem Computer, so dass kreatives Handeln oft verkümmert. Dies hat weit- reichende Konsequenzen auf die soziale, emotionale aber auch motorische, visuomotorische und visuelle Entwicklung mit allen negativen Folgen.
13. Hat Ihrer Meinung nach der Einsatz neuer Medien einen Einfluss auf die Kreativitätsentwicklung?
Es gibt sicherlich einige gute Fernsehproduktionen oder auch Computerangebote, die hilfreiche Tipps für kreatives Handeln geben können oder auch Kreativität in einem gewissen Rahmen direkt fördern. Inwieweit diese wirklich unabdingbar sind, ist kritisch zu beleuchten. Elterliche Anregungen und eine kindgerechte Umwelt reichen vor allem in den frühen Lebensjahren aus, um kindliche Fantasie anzuregen.
Vor allem für ältere Kinder, die viele Stunden vor dem Computer mit Spielen verbringen, verändert sich die Welt der Kreativität. In der Regel zeichnen sich Computerspiele dadurch aus, dass sie in hohem Maße vorhersagbar sind, dass es sich um einen logischen Aufbau von Ursache und Wirkungszusammenhängen handelt und dass wenig Raum für intuitives Denken und Handeln bleibt. Es wird wenig geistige Wendigkeit (Flexibilität) gefordert, auch gibt es keinen Anspruch an Originalität der Lösungsfindung.
Vor allem die Tatsache, dass der Nutzer wenig Ausdauer und Geduld mitbringen muss, um Reaktionen auf sein Handeln zu erleben, führt dazu, dass die Bereitschaft von Kindern einen Spannungsbogen auszuhalten und Folgen zunächst antizipieren zu müssen, um diese später mit der Realität abgleichen zu können, immer weniger gefordert werden. Gerade beim Malen ist es jedoch eine wichtige Erfahrung, auch die Zeit für sich arbeiten zu lassen, so zum Beispiel Trocknungsprozesse bei Aquarellen oder Ölbildern abzuwarten und für sich zu nutzen.
14. Können Malprogramme am Computer das klassische Malen ersetzen?
Nein, das können sie in keinem Fall. Zwar können einige Dinge am Computer auch in Bezug auf das Malen gelernt werden. Der verfrühte Einsatz bei Kindern ist jedoch eher schädlich, da die Ergebnisse zum Beispiel zunächst verlockend konkret und realistisch aussehen und den Kindern damit auch der Mut genommen werden kann, sich forschend und experimentell, neugierig und interessiert an eine eigene künstlerische Aufgabe heranzuwagen. Es droht ein Verlust konkreter Materialerfahrung, das Arbeiten am PC ist ein nicht-sinnliches Erlebnis.
Positive Aspekte sind die Tatsache, dass Kindern auch die Angst vor Fehlern genommen werden kann. Computerergebnisse sind korrigierbar, sie sind in jedem Zustand fixierbar und auch reproduzierbar. Wir müssen darauf achten, welche Wirkung solche Angebote auf Kinder haben. Unser Gehirn ist so programmiert, dass die Themen die häufig angeboten werden, ihre Spuren hinterlassen. Nutzungs-abhängige Neuroplastizität heißt das Stichwort. Wenn wir unserem Gehirn „Ausmalen auf dem Computer“ anbieten, dann wird sich hirnmorphologisch eine Veränderung ergeben, so dass „Ausmalen auf dem Computer“ immer besser gelingen wird. Allerdings verkümmert im Gegenzug der Bereich „Ausmalen mit Papier und Buntstiften“ entsprechend.