Das Geheimnis der Kinderbilder

Mit freundlicher Erlaubnis von Herrn Dr. Armin Krenz »Institut für angewandte Psychologie und Pädagogik (IFAP) Kiel«

 

 

Von Armin Krenz, November 2010

 

Wissenschaftler auf der ganzen Welt versuchen seit vielen Jahrzehnten, dem bildlichen Ausdruck des Menschen und seiner Bedeutung auf die Spur zu kommen. Dabei fanden sie heraus, dass es besonders bei Kinderzeichnungen kulturübergreifende Gemeinsamkeiten gibt. Sowohl in der Darstellung von erlebten Situationen als auch in der Form des Ausdrucks. Die Übereinstimmungen sind so groß, dass es kein Zufall sein kann, wenn Kinder »so oder so« malen.

 

Gleich, ob ein Bild schnell im Vorbeigehen oder mit großem Aufwand gemalt wird, ob ein Kind sorgsam nach den richtigen Farben sucht oder den erstbesten Stift, den es in die Hand bekommt, zum Malen nutzt – fragt man nach dem »Sinn« von Kinderbildern, so lässt sich feststellen: Kinder drücken in ihren Bildern immer ihre Hoffnungen, Wünsche, Träume, Visionen und Erwartungen aus – aber auch ihre Ängste, Befürchtungen, Verletzungen und Sorgen. Ihre Bilder stellen ihre aktuell erlebte Realität dar – ein Gegenwartserlebnis mit einer Verbindung zur Vergangenheit und Zukunft. Selbstverständlich ist das Malen der Kinder kein  bewusst gestalteter Akt. Deshalb sagen Entwicklungspsychologen nicht »Das Kind malt«, sondern »Es malt das Kind«. Mit dem »Es« sind Gefühle und innere Bilder gemeint, die in den Malprozess hineinspielen.

 

 

Frühförderung „Igelfamilie unter Regenbogen“, Alter: 6 Jahre

 

 

Wie Kinderbilder »gelesen« werden können

 

Kinderbilder setzen sich stets aus sechs Schwerpunktelementen zusammen. Da sind erstens die so genannten 20 Grapheme – die Grundzeichen oder Kritzel, die vom Punkt, den verschiedenen vertikalen, diagonalen oder horizontalen Linien, den Kurven-, Zickzack- oder Wellenlinien über die Spiral- und Kreis- bis zu den offenen Linien reichen. Jedes Graphem entspricht einem bestimmten Entwicklungsschritt in den ersten vier Lebensjahren. Daraus, wie häufig bestimmte Grapheme gewählt werden, lässt sich auf den jeweiligen Entwicklungsschwerpunkt schließen.

 

Zweitens betrachten wir die drei Persönlichkeitsebenen: Handlungskompetenz, emotionale Kompetenz und kognitive Kompetenz. Die Bilder zeigen uns, wie stark oder schwach die jeweiligen Bereiche entwickelt sind. Im dritten Schritt werden die Zeitebenen betrachtet: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: Das Gemalte gibt uns Aufschluss darüber, in welchem Zeitfeld das Kind sich emotional und kognitiv am stärksten aufhält.

 

Mehr als neunzig Prozent der vielen tausend Kinderbilder, die ich in den letzten zwölf Jahren ausgewertet habe, lassen mich zu dem Schluss kommen, dass sich Kinder zwischen dem vierten und siebten Lebensjahr mit intensiv emotional besetzten Gedanken zur Familiensituation vergangenheitsbezogen auseinandersetzen. Diese Beobachtung steht im Widerspruch zur derzeitigen kognitiven, zukunftsorientierten Lernförderung vieler Kindergartenkinder. Hier ist ein radikaler Perspektivenwechsel notwendig, um Kinder in ihrer nachhaltigen Persönlichkeitsentwicklung nicht noch stärker zu behindern.

 

Frühförderung „Haus mit Hund und Blumenregen“, Alter: 6 Jahre

 

 

Das vierte Element ergibt sich aus der Farbenauswahl der Kinder. Soziokulturell orientierte Pädagogen geben vor allem den vier Primär- und den vier Sekundärfarben die höchste Bedeutungspriorität: rot, gelb, grün, blau sowie schwarz, weiß, violett und braun. Diese Farben spielen in der Geschichte der Menschheit eine besondere Rolle und viele aktuelle Erkenntnisse aus der Entwicklungspsychologie zeigen, dass Kinder ihre gefühlsbelegten Erlebnisse immer wieder mit denselben Farben versehen.

 

Nun werden im fünften Schritt die gemalten Gegenstände betrachtet, wobei ihnen allen ein bestimmter Symbolwert zugewiesen wird – zumeist orientiert an Carl Gustav Jung. Er ging davon aus, dass jeder Mensch in seinem Unterbewusstsein einen »riesigen Speicher« mit auf die Welt bringt, in dem ein vollständiger Satz von Bildern, Zeichen und Symbolen enthalten ist, die durch äußere Eindrücke und deren Bewertung aktiviert und miteinander vernetzt werden. Ob es sich dabei um die Sonne, Sterne, den Mond, die Wolken, ein Haus, bestimmte Tiere, einen Zaun, ein Feuer, einen Regenbogen, einen Wald, eine Explosion, einen Berg oder etwas anderes handelt: Hier stehen archetypische Bilder für einen bestimmten Bedeutungsgehalt.

 

Zum Schluss werden Besonderheiten berücksichtigt: 

 

  • Schwebebilder, bei denen die Personen, Tiere oder Gegen­stände keinen Boden unter den Füßen haben,
  • Rahmenbilder, bei denen die vier Seiten eines Blattes mit Linien versehen wurden,
  • Doppelungen von Gegenständen,
  • Neigungswinkel von Baumkronen oder Hausdächern,
  • Auslassungen von sinnverbundenen und zugehörenden Gegenstandsteilen,
  • Zuklebungen oder Einrollungen.

 

 

 

Frühförderung „Zirkuszelt“, Alter: 4 Jahre
Frühförderung „Feuerwehrauto“, Alter: 5 Jahre

 

 

Der »Zweck« der Kinderbilder liegt schlicht in der Freude, die die Kinder beim Malen empfinden und in ihrem Wunsch, sich »auszudrücken«. Sich auszudrücken bedeutet, aus einem Druck herauskommen zu wollen. Die Empfindung eines Drucks ist dabei nicht einer erlebten Belastung gleich zusetzen! Vielmehr ergibt sich ein Druck aus dem Wunsch des Menschen, sich von Gefühlen oder Gedanken frei zu machen, um für neue Wahrnehmungen und Handlungen offen zu sein. Man könnte also sagen: Kinderbilder steigern und befreien von Gefühlen, entlasten von nicht verarbeiteten Gedanken und sorgen für die Möglichkeit, sich der aktuellen Lebenssituation erneut zu stellen.

 

Was zunächst von höchster Bedeutung für das Malen der Kinder ist, ergibt sich aus einer entwicklungspsychologischen Gesetzmäßigkeit: Es gibt beim bildlich-graphischen Ausdruck der Kinder kein »richtig oder falsch«, »gut oder schlecht«, »angemessen oder unangemessen«, »schön oder weniger schön«! Wenn Kinder sich selbst und ihr gesamtes Umfeld subjektiv einschätzen und bewerten – also mit emotional belegten Wertmaßstäben beurteilen –, dann entspricht ihr Malen stets der eigenen Vorstellung von Richtigkeit.

 

Nicht ohne Grund heißt es auch in der Neurobiologie: So wie der Mensch fühlt, so denkt er, und so wie er denkt, so handelt er. Das Fühlen prägt unsere Denkrichtung und löst ein entsprechendes Handlungsmuster aus. Insofern kann und darf es keine »objektive Richtigkeit« eines Malens für Kinder geben! Wenn Kinder bedeutsame Dinge besonders groß malen, dann kann die Darstellung eines Löwen größer sein als die eines Hauses oder eines Baumes. Kinder geben mit ihrem Bildausdruck ein gefühltes Abbild ihrer aktuellen Lebenseinschätzung wieder. Insofern ist das gemalte Bild ein  gespeichertes Bündel von Eindrücken. Und hier schließt sich ein kulturgeschichtlicher Kreis: Ein-druck sucht Aus-druck. Das Malen reiht sich dabei gleichwertig neben die anderen fünf Ausdrucksformen des Kindes ein.

 

 

Frühförderung „Fantasievogel“, Alter: 5 Jahre

 

 

Vorsicht bei der Deutung

 

Eine Deutungsaussage zu einem Bild ist nur unter folgenden Bedingungen mög­lich:

 

  • Es müssen stets mehrere Bilder vorliegen, um Merkmals­häufungen zu entdecken. Einzelbilder sind für sich gesehen Tagesabbildungen und würden zu zufälligen Verallgemeinerungen führen.
  • Die Grundlage für die Deutungsarbeit ist abgesichertes Wissen.
  • Eine Gesamtaussage ergibt sich nie aus der Auswertung einzelner Merkmale. Sie ist das Ergebnis einer Zusammenschau aller sechs Schwerpunktmerkmale.
  • Aussagen sind nur dann relevant, wenn sie mit der Analyse der anderen fünf Ausdrucksformen übereinstimmen.

 

Kinderbilder sind ein überaus wertvolles Dokument, um die  Lebenswelt eines Kindes zu verstehen, innere Wertigkeiten zu entdecken und pädagogische Maßnahmen abzuleiten. Wir sollten allen Bildern eines Kindes mit Wertschätzung und Respekt begegnen, weil es uns damit sein »Seelen­tagebuch« anvertraut.

 

 

Literatur: Armin Krenz: Was Kinderzeichnungen erzählen. Kinder in ihrer Bildsprache verstehen, Dortmund 2010; Hans-Günther Richter: Die Kinderzeichnung. Entwicklung – Interpretation – Ästhetik, Berlin 1997; Martin Schuster: Kinderzeichnungen. Wie sie entstehen, was sie bedeuten, München 2010; Wolfgang Sehringer: Zeichnen und Malen als Instrumente der psychologischen Diagnostik. Ein Handbuch, Heidelberg 1999

 

Zum Autor: Dr. Armin Krenz arbeitet am »Institut für angewandte Psychologie und Pädagogik (IFAP) Kiel« mit dem Forschungs- und Fortbildungsschwerpunkt »Professionelle Entwicklungsbegleitung und Qualität in der institutionalisierten elementarpädagogischen Praxis«.

 

 

Frühförderung „Schulklasse“, Alter: 6 Jahre